Lagerschule Haiming

Entstehung des Lagers

Lager Haiming von Westen

Das Lager Haiming entstand während des zweiten Weltkrieges und diente zuerst als Arbeitslager bzw. Unterkunft für Arbeiter (Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Arbeitsverpflichtete), welche für die Westtiroler Kraftwerke AG die unterste Staustufe der Ötztaler Ache ausbauen sollten. Nach der Übernahme durch die Alliierten kam das Lager unter französisches Kommando. In diesem Lager befanden sich am 15. März 1946 insgesamt 1192 Volksdeutsche.

Die Lagerschule - eine ganz besondere Schulform

Auszüge aus dem Buch "Heimat auf Zeit" mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Salvador-Wagner

ISBN 3-7030-0291-3

Die Lagerschule

Die Eröffnung der Lagerschule erfolgte im März 1946 sofort nach der Ankunft der Flüchtlinge. Anfangs wurden zwei, später drei Stunden Unterricht ohne fixen Stundenplan in einer provisorischen Schulbaracke abgehalten. Die Lehrer arbeiteten zuerst für das Essen aus der Lagerküche, erst später wurden sie durch die Landesregierung bzw. durch die Lagerkasse entlohnt. Der Status dieser Schule war noch völlig unklar, deshalb bezeichnete man sie im Schuljahr 1945/46 als Private fünfklassige Volksschule. Die Zeugnisse wurden auf österreichischen Zeugnisformularen ausgestellt, doch statt eines Schulsiegels wurde das Lagersiegel angebracht, und neben dem Lehrer Hans Becker und dem Schulleiter Oscar Schikorsky unterzeichnete Lagerleiter Ghyoot. Da die Zeugnisse aufgrund einer kommissionellen Prüfung durch Haiminger Lehrer, nämlich Josef Peintner, Franz Klingler und Johanna Haslwanter, ausgestellt wurden, brachte man außerdem das Siegel des Bezirksschulrates Imst an. Für die knapp vier Monate des Schuljahres 1945/46 existieren außer Zeugnissen keinerlei Unterlagen, also auch keine Schüler- und Klassenzahlen.

Beginnend mit dem Schuljahr 1946/47 bis zum Schuljahr 1949/50 wurde die Schule als Lagerschule Haiming der Französischen Kontrollmission, Section PDR, geführt. Damit war der Einfluss der Bezirksschulbehörde ausgeschaltet. Die Zeugnisformulare wurden von der Druckerei Egger in Imst eigens für die Lagerschule Haiming angefertigt. Alle Angaben wurden zuerst auf Französisch, dann auf Deutsch gemacht, und die Note für Französisch stand vor der Deutschnote. Die Zeugnisse trugen den Stempel der Lagerverwaltung, des Hochkommissariats der Republik Frankreich in Österreich, Kontrollmission, PDR Tyrol, und der Militärregierung, Abteilung für Erziehung und Kunst, und wurden vom Klassenlehrer, dem Schulleiter und dem Lagerleiter unterzeichnet.

Alle Lehrer an der Lagerschule waren Volksdeutsche und lebten im Lager. Zum Teil hatten sie die Kinder schon in Kufstein unterrichtet und waren mit ihnen nach Haiming gekommen. Die gleiche Herkunft und das gemeinsame Schicksal von Lehrern und Schülern prägten die Atmosphäre in der Lagerschule.

 

Folgende Lehrer unterrichteten zwischen 1946 und 1950:

Schikorsky Oscar, Lehrer und Schulleiter von 1946 bis 1948;

Blickling Anton, Lehrer von 1946 bis 1948, Schulleiter von 1948 bis 1949;

Hauschka Hans, Lehrer von 1947 bis 1953, Schulleiter von 1949 bis 1950;

Becker Hans, Lehrer von 1946 bis 1954;

Hauschka Rosa, Lehrerin von 1946 bis 1951;

Link Regina, Lehrerin von 1946 bis 1950;

Miess Martin, Lehrer von 1946 bis 1947;

Sykora Emma, Lehrerin für Französisch von 1949 bis 1950.

 

Da die Klassenräume sehr klein waren, wurden die Volksschulklassen nach Möglichkeit geteilt und Parallelklassen geführt. Die Realschule bestand immer aus zwei Klassen und nahm alle Schüler der Oberstufe auf, die nicht in die Hauptschule gingen.

Ein Großteil der Kinder hatte durch die Flucht mehrere Schuljahre verloren. Sie waren zwar überall zur Schule geschickt worden, wo sie sich auf dem Weg nach Haiming aufhielten, oft nur für wenige Wochen, doch konnten sie unter diesen Umständen nicht allzu viel lernen. Deshalb wurden die Kinder in die Klassen eingestuft, die ihrem Wissensstand am ehesten entsprachen. Das Ergebnis waren Klassen mit sehr großen Altersunterschieden zwischen den Schülern. In der 3. Klasse des Schuljahres 1946/47 saßen 34 Schüler aus sieben Jahrgängen:

Die Klassen waren auch deshalb uneinheitlich, weil die Schüler aus den verschiedensten Gegenden zusammengewürfelt waren und sehr unterschiedliche Dialekte sprachen. So kamen die Kinder der 2A-Volksschulklasse des Schuljahres 1946/47 aus:

Pancevo, Sekic, Bastei, Kovin, Pisanica, Neu-Pasova, Neu—Futok, Neuhäusl in der ehemaligen Tschechoslowakei, Baranja—Luc, Bjelovar, Cervenka, Grubisno—Polje, Despot Sveti Ivan, Miletic, Krnjaja, Belgrad, Cib und Karlsdorf.

Aber sie konnten einander gut verstehen, weil sie nicht in ihren Dialekten sprachen, sondern eine dem Hochdeutschen angenäherte, gemeinsame Umgangssprache entwickelten.

Die große psychische Belastung durch Krieg, Flucht und Vertreibung überstanden die Kinder relativ unbeschadet, auch wenn dieses Trauma je nach Familiensituation und Persönlichkeit sehr unterschiedlich verarbeitet wurde. Doch konnten die Lehrer keine Auffälligkeiten im Verhalten beobachten. Das größte Problem der Schuljahre 1946 bis 1948 war der Hunger, der den Kindern zu schaffen machte. Der Lagerleiter Ghyoot versuchte die Schüler anzuspornen und vergab Preise (Kondensmilch oder Schokolade) für gute Leistungen, für die besten Schüler wurden Ausflüge veranstaltet.

Die Schulerfolge der Lagerkinder waren wirklich erfreulich: Von insgesamt 240 Schülern im Lager (163 in der Lagerschule, 14 in der Hauptschule Imst, der Rest in verschiedenen höheren Schulen in Imst, Zams, Telfs und Innsbruck) konnten 230 das Schuljahr 1946/47 positiv abschließen.

Die Raumnot war in der Lagerschule so groß, dass ein ordentlicher Schulbetrieb auf Dauer nicht  aufrechterhalten werden konnte. Im Frühjahr 1949 wurde der Bau einer neuen Schulbaracke geplant, Schulmöbel wurden bestellt, doch im Oktober war noch immer nichts geschehen; man wartete auf eine Schulbaracke, die aus Wörgl kommen sollte, auch die Schulmöbel wurden nicht geliefert. Die Kinder erhielten nur drei Stunden am Tag Unterricht, weil zu wenig Platz war. Da es auch Auseinandersetzungen wegen der Bezahlung der Lehrer, vor allem eines Französisch-Lehrers von auswärts, gab, waren die Eltern sehr aufgebracht. Schließlich mussten sie trotz der ungeregelten Verhältnisse Schulgeld bezahlen. Der Lagerleiter Ghyoot versuchte die Empörung gegenüber den österreichischen Behörden zu dämpfen und bot an, die Hälfte eines Lehrergehalts aus der Lagerkasse zu bezahlen, die andere Hälfte wurde durch einen freiwilligen Beitrag der Eltern von 2,- Schilling monatlich finanziert.

Im März 1950 wurde schließlich mit den Fundamenten der neuen Schule begonnen. Ein Aktionskomitee, bestehend aus dem evangelischen und dem katholischen Pfarrer, dem Schuldirektor und den verantwortlichen Handwerkern, koordinierte die Arbeiten, und viele freiwillige Helfer beteiligten sich. Sogar ein Spielplatz, abgeteilt für Buben und Mädchen, wurde angelegt. Die Fertigstellung der Arbeiten wurde am 1. Mai mit einem Frühlingsfest gefeiert. Doch der Lagerschule standen grundlegende Veränderungen bevor. Am 1. Juli 1949 erging ein Erlass des Bundesministeriums für Unterricht an die Landesschulräte und die Ämter der Landesregierungen, betreffend die Überleitung der volksdeutschen Flüchtlingsschulen in die österreichische Verwaltung. Vorläufig waren die Schulen in jenen Lagern, die unter alliierter Verwaltung standen, ausgenommen und galten weiterhin als Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht. Erst mit Beginn des Schuljahres 1950/51, nachdem die volksdeutschen Lager Wörgl B, Haiming und Kematen in die österreichische Verwaltung übergegangen waren, wurden auch deren Lagerschulen in die österreichische Verwaltung übergeleitet. Die Lagerschule in Haiming wurde der Volksschule in Haiming als Nebenschule zugeordnet und vom Leiter der VS Haiming, Anton Mayr, verwaltet. Gemäß §20 des Tiroler Landesschulgesetzes war die Gemeinde Haiming zur Erhaltung der Nebenschule im Lager Haiming verpflichtet. Soweit die bisher verwendeten Lehrkräfte den österreichischen Vorbildungsbestimmungen entsprachen, wurden sie weiter eingesetzt.

Ein Lokalaugenschein gab ein genaues Bild vom Zustand der Lagerschule. Anwesend waren Landes-, Bezirks- und Lokalpolitiker, sowie Bezirksschulinspektor Peintner, der Lagerleiter Dr. Friedrich Amberg, der bisherige Schulleiter Hans Hauschka, der Schulleiter von Haiming, Anton Mayr und zwei Ärzte. Im Protokoll hieß es:„Die Schulräume sind als Notbehelfe zu betrachten und entsprechen hinsichtlich Ausmaß, Beleuchtung und Einrichtung nur den Mindestanforderungen.“

Falls das Lager Haiming noch länger aufrecht erhalten bleiben sollte, müsste die Gemeinde Haiming ein neues Schulgebäude bauen. Der Gemeinde Haiming entstand durch die Übernahme der Lagerschule eine große finanzielle Belastung, weil sie die Kosten tragen musste für die Heizung, eine Reinigungskraft, Lehrmittel, die der Schule fast vollständig fehlten und bauliche Maßnahmen, da zwei Wände versetzt werden mussten. Sie ersuchte um außerordentliche Unterstützung wegen des Mehraufwandes, der von der BH Imst für das laufende Schuljahr 1950/51 mit 11.000,- Schilling bemessen wurde. Doch auch Vorteile ergaben sich für die Gemeinde durch die Übernahme der Lagerschule. Die Kinder der Fraktionen Ötztal-Bahnhof und Riedern wurden in den ersten fünf Schuljahren in die Lagerschule geschickt, um ihnen den weiten Weg nach Haiming zu ersparen. Im Schuljahr 1950/51 unterrichteten die volksdeutschen Lehrer Hans Becker, Adalbert Becker, Hans Hauschka, Rosa Hauschka und die junge Haiminger Lehrerin Hilde Moser in fünf Volksschulklassen. Die Realschule, die ja dem französischen Schulsystem entsprochen hatte, wurde durch die fünfte Volksschulklasse ersetzt, die zehn Schüler der sechsten Schulstufe wurden in Haiming eingeschult. Auch im Schuljahr 1951/52 wurde die Lagerschule noch fünfklassig geführt, in den Schuljahren 1952/53 und 1953/54 waren es noch vier Klassen, weil die Kinder der Oberstufe nach Haiming gehen mussten. In den Schuljahren 1954/55 und 1955/56 gab es nur mehr drei Klassen, die zweite und dritte Schulstufe wurden zusammengelegt. Die Schülerzahlen liegen allerdings nicht vor, da die Kataloge der Volksschule nicht auffindbar sind. Die Lehrer wechselten nun häufig, die volksdeutschen Lehrer verließen das Lager, und ab 1954 unterrichteten nur noch Tiroler Lehrer in der Lagerschule: Anna Wolf—Begus, Johanna Haslwanter, Hubert Eiter, Dr. Josef Zobl, Josef Köll, Helmut Kolb, Hilde Stigger-Moser, Hans Melmer, Elmar Pechlaner und Hilde Happak. Mit dem Ende des Schuljahres 1955/56 war nach zehn Jahren Bestand das Ende der Lagerschule gekommen. Hunderte Kinder waren durch diese Schule gegangen und hatten die Grundlage für ihre berufliche und gesellschaftliche Zukunft erhalten. Ihre Ausbildung war so gründlich, dass sie sowohl in den Hauptschulen in Imst und Haiming als auch in Berufsschulen, berufsbildenden Schulen und Gymnasien erfolgreich waren. Vor allem wurden die Schüler der Lagerschule geschätzt wegen ihres gepflegten Auftretens und ihres guten Benehmens. Darüber hinaus hatte die Lagerschule noch eine wichtige Funktion: Innerhalb des Lagerlebens war die Schule an vielen Veranstaltungen beteiligt und gestaltete sie zusammen mit den verschiedenen Vereinen. Ob es der französische Nationalfeiertag, der 1. Mai, Muttertag oder Weihnachten war, die Kinder der Lagerschule wurden in die Feiern einbezogen, sie sangen, führten Tänze auf, trugen Gedichte vor und lernten, sich unbefangen und selbstsicher in der Öffentlichkeit zu präsentieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Durch die Übernahme in das österreichische Schulwesen kam ein weiterer Faktor hinzu. Seit 1950 besuchten auch Kinder vom Ötztaler Bahnhof und aus Riedern die Lagerschule. Lagerkinder und Tiroler Kinder wuchsen völlig problemlos zu Klassengemeinschaften zusammen und entwickelten Freundschaften, die auch später Bestand hatten. In der Lagerschule spielten Herkunft und Nationalität keine Rolle, weder zwischen den Schülern noch im Lehrkörper. Die Atmosphäre der Schule war bestimmt durch die Bereitschaft, den anderen Menschen, ob Kind oder Erwachsener, zu achten und zu respektieren. Diese Einstellung den Schülern für ihr Leben mitzugeben, war das größte Verdienst der Lagerschule.

Lagerschule Haiming-Lehrerkollegium
Kollegium der Lagerschule
Lagerschule Haiming-Klassenfoto mit Lehrerin
Eine Klasse der Lagerschule mit Lehrerin
Plan Lager Haiming
Der Lagerplan
Katalog Lagerschule
Katalog der Lagerschule (unter französischer Führung)
Zeugnis Lagerschule
Ein Zeugnis der Lagerschule